„Bitte
nicht die Rollladen“, die Stimme der alten Frau klingt flehend
und energisch zugleich. Die Hand der Pflegerin zögert, lässt
dann den Gurt weiter durch ihre Hand gleiten. „So kann ich nichts
spüren“, sagt die alte Frau. „Wenn Sie nur die
Vorhänge zuziehen, kann ich alles fühlen, was in der Nacht
geschieht.“ Die Pflegerin reagiert nicht.
Nach einer
Weile spricht die alte Frau weiter – im Erzählton:
„Durch die Vorhänge spüre ich die Natur – nachts,
wenn alles ruhig ist. Als wäre sie hier in meinem Zimmer oder ich
wäre in ihr. Nachts fühle ich, dass ich lebe.“
Die
Schwester nimmt das Tablett mit den Arzneimitteln, um ins nächste
Zimmer zu gehen. Die alte Frau erzählt gerne Geschichten aus ihrem
Leben. Immer enden sie mit einem Erlebnis vom Fest des Jahres, von den
Weihnachtsfeiertagen in ihrem großen Haus, wo sich die Menschen
trafen, die zu ihr gehörten. Manchmal hört ihr die Pflegerin
zu. Manchmal nimmt sie sich die Zeit. Aber heute – der Bus wartet
nicht. Und bei diesem Wetter warten, bis der nächste kommt …
Leise
spricht die alte Frau weiter: „Durch die Vorhänge fühle
ich den Schnee, ich sehe sein wachsendes Leuchten, das allmählich
die Nacht erhellt, und ich weiß, dass bald Weihnachten ist.“
„Gute
Nacht“, sagt die Pflegerin und fügt freundlich hinzu:
„Morgen habe ich sicher etwas mehr Zeit.“
„Und
bis Weihnachten“, sagt die Frau vor sich hin, „bis
Weihnachten werde ich noch durchhalten.“ Sie lächelt und
hebt eine Hand zum Gruß. Als die Tür geschlossen ist,
lächelt sie noch immer.
Die alte
Frau kann ohne Hilfe nicht gehen – das wissen alle im Haus. Doch
am Morgen sind an beiden Fenstern die Rollladen hochgezogen. Eine
kühle Herbstsonne scheint durch die Vorhänge. „Es wird
bald Frost geben“, sagt die alte Frau und achtet nicht auf die
Frage nach den Rollladen, sondern wiederholt ihre Worte vom Abend:
„Bis Weihnachten werde ich noch durchhalten.“
Die
Pflegerinnen ziehen nun abends nur noch die Vorhänge zu. Und die
alte Frau wendet ihr Gesicht den Fenstern zu, schläft und wacht
und fühlt den Wind, die Kälte und die Feuchtigkeit und geht
zwischen Traum und Wachsein lange Wege durch Herbst- und Wintertage.
„Heute
Nacht gab es den ersten Schnee“, sagt sie an einem Morgen und
bittet um die Ledermappe, die unten in ihrem Kleiderschrank liegt.
Langsam liest sie ihre alten Weihnachtskarten. „Es sind die
schönsten. Die konnte ich nicht wegwerfen. Sie standen
während des Festes immer auf dem Kaminsims – bis
Neujahr.“
Wie jedes
Jahr stellen die Pflegerinnen die Karten auf den kleinen Tisch vor
ihrem Bett, eine nach der anderen, wenn die alte Frau sie gelesen hat.
Und als in einer Adventsnacht der erste Schnee Winterlicht ins Zimmer
bringt, sieht sie alle wieder auf dem Kaminsims stehen, umgeben von
Weihnachtschmuck und festlich gekleideten Menschen. Sie riecht Schnee
und weihnachtlich Düfte. Sie hört vertraute Stimmen.
Noch einmal Weihnachten, ihr Weihnachten.
Nur eine
Karte ist nicht aufgestellt. Sie liegt neben ihr im Bett, als sie am
Morgen nicht aufwacht. Die Karte ist mehr als 50 Jahre alt, und die
blasse Schrift spricht von Liebe.